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Erläuterungen zum Bild „Der Rat des Fährmanns“
57 x 83 cm 30.09.1990
Das
in der Bildgruppe „Santiago“ rechts von „Orpheus und Eurydike“ folgende Bild
greift, wie zunächst vermutet werden könnte, nicht auf die griechische
Mythologie von Charon zurück, den Fährmann, der die Toten in Hades‘ Nachen über
den Grenzfluss Acheron zur Unterwelt hinüber rudert. Es handelt sich vielmehr
um den Nackenheimer Fährmann Schneider, der mir in den Jahren nach 1938 nicht
nur deshalb auffiel, weil er groß, breitschultrig, freundlich und immer gut gelaunt
war, sondern vor allem dadurch, dass ihm
an beiden Händen mehrere Finger ganz oder halb fehlten, vermutlich durch
Arbeitsunfälle an Motorboot, Fähre oder Nachen, denn diese mussten bei Fahrten
mit Tauen fest miteinander verbunden werden. Er unterhielt bis zum Kriegsende
am Rheinufer einen Fährbetrieb mit überdachtem und mit Sitzbänken versehenem,
weiß gestrichenem Motorboot, einer schwarzen Fähre und mehreren Nachen, um Kühe
auf die Weiden der Inseln zu bringen, Heuwagen mit Pferdegespann zu holen oder
Fahrgäste in den die beiden Inseln Kisselwörth und Sändchen trennenden Kanal zu
einer Anlegestelle, einer Treppe zwischen den Steinblöcken der Uferbefestigung,
zu transportieren. Von dort mussten diejenigen, die baden wollten, zu einem 500
m entfernten, an der Ostseite der Insel gelegenen, kleinen Strand laufen.
Andere, die lieber wanderten, konnten im Sommer (und auch im Winter, falls kein
Treibeis vorbeikam oder der Mühlarm zugefroren war) bis zur südlichen
Inselspitze Familienausflüge machen, um zu fotografieren, zu rasten oder die
Schlepper (Raddampfer) mit ihren an Drahtseilen gezogenen Kähnen zu beobachten.
Gelegentlich fuhr uns der Fährmann Schneider auch über den
Mühlarm und durch den die beiden Inseln
Kisselwörth und Sändchen trennenden Kanal auf die östliche Rheinseite zu
einer Anlegestelle, die nicht nur eine Treppe hatte, sondern auch ein
Steinhäuschen mit Betondecke, um sich bei Hitze, Regen oder Gewitter
unterstellen zu können. Das Besondere an der Anlegestelle war aber ein
Signalmast, an dem man ein armlanges, rechteckiges, waagrecht stehendes rotes
Blech mit Hilfe eines Drahtseils, an dessen unterem Ende eine dünne Kette
angebracht war, in eine mit 45° nach oben weisende Position bringen konnte, was
den etwa 800 m entfernt wohnenden Fährmann -- bei abgesprochener ungefährer
Uhrzeit - - veranlasste, uns wieder abzuholen. Von dieser Anlegestelle konnte
die Familie auf dem Rheindamm Ausflüge nach Süden unternehmen. Beliebter waren
kürzere Wanderungen, z.B. zu einem Wirtshaus „Hagelaue“ hinter dem Hauptdeich
östlich des Guts Hohenau, wo es Käsebrot mit Limonade gab, oder auf einer
gepflasterten Straße mit Brücke über den Ginsheimer Altrhein nach Norden, auf
breiten sandigen Wegen neben Schatten spendenden Pappeln.
Das
traurige Ende des Motorboots erlebte ich in Nackenheim beim Einmarsch der
US-Truppen an einem sonnigen 21.3.1945. Ich hielt mich zufällig -- nachdem ich
den wirren Haufen unserer Kleinkalibergewehre vor unserem „Jungvolk“-Parteiheim
in der Fischergasse begutachtet hatte --
am Rheinufer neben der lebensgroßen, buntfarbigen, durch einen Maschendrahtkäfig geschützten Statue des
Heiligen Nepomuks auf, als 2 Amerikaner
in einem Jeep vorfuhren, und der Schütze mit dem aufmontierten überschweren MG (12,7 mm) das
Feuer auf das mit deutschen Soldaten vollbesetzte, gerade anlegende Fährboot
eröffnete. Diese hatten zum Einkaufen an der Anlegestelle festgemacht,
nichtsahnend, dass die Amerikaner
bereits im Dorf waren. Es gab
Tote und Verletzte, der Rest der Soldaten konnte aber trotz weiteren Beschusses
mit dem Motorboot über den Mühlarm und
durch den Kanal an das östliche Rheinufer zur Signalmast-Anlegestelle entkommen. Dort ging es unter, ragte aber
noch mehrere Monate mit seiner weißen Kabine aus dem Wasser. Seit
Jahrzehnten führt in Nackenheim die B9-Schnellstrasse über Fährmann Schneiders
Anlegestelle, wo das Gemetzel stattfand.
Die
verrosteten Türschlösser stammen von kleinen Müllhalden des Rheingaus,
Rheinhessens, Waldecks (Edersee) und Hallenbergs (Hochsauerland). Sie sollen
das Bestreben deutlich machen, ein eigenes Haus zu erwerben (was allerdings bis
heute nicht gelungen ist). Verstärkt wird diese Absicht durch das in der Mitte
angebrachte „Holzhaus“, ehemals wohl ein von einem Kind gebasteltes Schiff, das
ich bei den häufigen Wanderungen an den Rheinstränden zwischen Niederwalluf und
Eltville (Rheingau) am 3.8.1989 aufgelesen
hatte, was auch für das gelb lackierte, mit einem eingelegten Messinggriff versehene Rundholz
(offenbar eine Speiche eines Steuerrads) und den darunter angebrachten
Messingriegel gilt. Die im oberen Bilddrittel festgeschraubte, in Rheinhessen
auf einer Mülldeponie gefundene Schaufel, eine Kombination aus Pflug und Rechen, ist vermutlich vorderster
Teil einer alten Kartoffelernte-Maschine. Mit ihrem unteren kegelförmigen
Abschnitt überdeckt sie das obere Ende des phallusartigen Rundholzes, was im
übertragenen Sinne vermitteln soll: Sich jetzt mit allen Kräften dem Beruf und
dem Bildermachen widmen, alles, was ablenkt,
vermeiden, sich außerdem mehr dem Erwerb eines eigenen Hauses mit großer
Werkstatt und passenden Ausstellungsräumen zuwenden. Nach Abschluss des Bildes
führte mich am 17.10.1989 wieder einmal ein Ausflug über Trebur zum Gut Hohenau
und von dort nach Süden zur der beschriebenen ehemaligen Anlegestelle des
Fährmanns Schneider. Das Unterstellhäuschen war fast völlig zerstört, und am
Signalmast hingen lediglich noch Drahtseil und Zugkette herab. Ich nahm die
Gelegenheit wahr, an authentisches Bildmaterial zu gelangen, und die Kette mit,
befestigte sie noch am gleichen Tag zu beiden Seiten der Steuerrad-Speiche.
Wenn ich die Kette ansehe, meine ich, wieder die früheren Tage zu erleben: die
Ausflüge mit Eltern und Brüdern, der eigenen Familie, Freunden, Bekannten, der
Freundin Bo, und natürlich kommt auch
der Fährmann Schneider vorbei, um uns abzuholen.
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