Erläuterungen zum Bild „Grossfamilie“

36 x 41 cm      23.3.2000

Ich schaltete am 8.6.2007 abends die Fernseh-Sendung „aspekte“ ein, in der von der diesjährigen Biennale in Venedig berichtet wurde (Ein  italienischer Besucher meinte, es handele sich wohl eher um eine „Kirmes“). Ich hatte das Gefühl, in die Situation eines Schuhmachers versetzt zu sein, der aus der kleinen Luke seiner Kellerwerkstatt, auf einem Stuhl stehend, die Aufmärsche, Paraden, Feiern, Umzüge oder Festspiele auf dem Gelände der Reichsparteitage, des Buckingham Palastes, des Platzes des Himmlischen Friedens, der Champs-Elysées, des Brandenburger Tores, des Roten oder des Peters-Platzes beobachtet. Immer wieder und auch hier muss er erneut darüber nachdenken, ob es sich um Aktionen von Gegnern oder Befürwortern des Friedens, Karnevals, der Aufrüstung, Gentechnik, Abtreibung, Atom- oder Windkraft, Drogen, Schöpfung oder Evolution, Globalisierung, Transvestiten, Gewerkschaften, Rechts- und Linksparteien oder der Postmodernen Kunst handelt.

An ähnliche Auftritte erinnert die gigantomanische Installation im Deutschen Pavillon, in der die Ausrichterin Isa Genzken gleich zu Anfang geäußert hatte, sie gedenke nicht, das Kunstwerk zu  erklären. Wäre der o.g. arme Handwerker nach Venedig gereist, dächte er vielleicht an eine Reisegepäck-Messe. Nun fragt man sich, muss ein Schuhmacher, der  die beiden Hörner von  Michelangelos „Moses“ nicht deuten kann, die Rollrucksackrepräsentation  einer Isa Genzken verstehen? Keineswegs. Mit dem Sprichwort „Schuster, bleib' bei deinem Leisten“, was natürlich auch für andere Macher Gültigkeit hat, kann er sich  von der hohe Bildung und damit hohes Ansehen und gelegentlich hohe Einkünfte versprechenden Kunst abwenden und sich  seinen Schuhen widmen, mit der Einsicht, „dass es nicht gilt, so gut wie möglich, sondern so lange wie möglich zu leben“ (A. CAMUS: Der Mythos von Sisyphos.- tb 90, 151 S. (S. 54); (Rowohlt) Hamburg 1959).

Im Angesicht  globaler Umwälzungen im Kunstverständnis und einer infektiösen Stillosigkeit, die von Kunstdirigenten und -agenten,  Marktmanagern und -abhängigen mit bewundernswerter Chuzpe ( wie z.B. bei G. Richter) als „Stil“ proklamiert wird, ist es natürlich mehr als gewagt, die in letzten Jahrhunderten gepflegte Art der Darstellung, Aufstellung und Hängung  jetzt wieder über  „Kartusche“, „Altarbild“ und „Flügelaltar“ oder durch  Nebeneinanderreihung von 3er- 5er- und 7er-Bildgruppen ablösen zu wollen und die in den letzten Jahrzehnten praktizierte Vorliebe für Produktionen zimmer-, saal- und hauswand- großer Gemälde zu provozieren.

Die hier zur Diskussion stehenden Materialbilder stellen in Form und Inhalt mehr als gewöhnliche Tafelbilder oder Collagen dar, nicht nur, was die Rahmung, die Materialien und die Präsentation angeht, sondern weil Lebensabschnitte, Landschaften, Orte, Geschichte, Ereignisse, Erlebnisse, Gegenstände, Tiere, tote oder lebende Menschen mit Hilfe authentischer, allegorischer, metaphorischer und symbolischer Stilmittel geschildert, verdeutlicht, erklärt, wiederempfunden,  wiederhergestellt und „wiederbelebt“ werden können. Es werden Methoden verwendet, wie sie auch  bei Geologen, Paläontologen, Archäologen, Vorgeschichtlern und Paläoanthropologen eingesetzt werden: Spurensuche, Spurenfindung, Freilegung, Archivierung, Konservierung, Altersbestimmung, Beschreibung und Deutung. Grundbedingung ist die Erläuterung des Bildes, wobei nicht oft genug daran erinnert werden kann, dass man -- ein Beispiel sei herausgegriffen -  ein berühmtes, im ersten Eindruck für alle leicht verständliches  Landschaftsbild von P. Bruegel d. Ä. nur interpretieren kann, wenn man weiß, was mit dem im Bildtitel gemeinten Sturz gemeint ist, den Mythos von Dädalus und Ikarus kennt, vielleicht sogar die beiden strampelnden Beine im Meer bemerkt, wobei während der ikonografischen Durchforstung noch nichts über die Leiche im Gebüsch, das Kurzschwert auf dem Acker, das Rebhuhn am Meer, die Abwesenheit des Vaters Dädalus und die Teilnahmslosigkeit  von Bauer, Schäfer, Angler und Schiffsbesatzung gesagt ist (B. WYSS: Pieter Bruegel. Landschaft mit Ikarussturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus.- tb 3962., 82 S.; (Fischer) Frankfurt a. M. 1990).

Anstoß zur Darstellung der „Großfamilie“ war ein Gruppenfoto vom 1.5.1933 vor dem ehemaligen Schulhaus in Annerod, meinem Geburtshaus und -ort: die in Gießen lebenden Eltern mit Großmutter, Bruder und Schwägerin meiner Mutter -- die Schwester meiner Großmutter -- meine Eltern und mein Bruder. Die Darstellung von Verwandten als Zangen erscheint zunächst unproblematisch, denkt man an den üblichen Gebrauch dieser Werkzeuge, Störendes, Unnötiges, Lästiges oder Peinigendes zu entfernen, was vor allem  Nägel, Schrauben, Klammern, Draht, Stacheldraht und  Zäune betrifft. Auf  Dargestellte  übertragen, heißt das: besonders in der Kriegs- und Nachkriegszeit Hunger zu stillen, Geldsorgen abzunehmen, Schuhe- und Kleidermangel zu beheben. Die Gießener Verwandtschaft war, was mich betrifft, häufig „Absteige“ bei den Hin- und Rückfahrten nach Oberhessen, um die Ferien auf dem Bauernhof in Kirtorf zu verbringen, bei Tante Marie und Onkel Heinrich, der nicht nur Bruder meines Großvaters und Lehrer war, sondern auch  Landwirt mit Pferde-, Rinder und Schweinehaltung, Hühner-, Enten-, Gänse- und Bienenzucht, dazu noch Gastwirt in seinem Wohn- und Gasthaus „Zum Offenen Helm“(Ecke Neustädter/Alsfelder Strasse) mit Fest- und Tanzsaal, Kegelbahn und Fremdenzimmern  (inzwischen abgerissen und durch einen Hotelneubau ersetzt). Außerdem waren sowohl die Großeltern als auch Onkel und Tante in Gießen  Zwischenstation bei „Hamsterfahrten“ mit Zug oder Fahrrad zu oberhessischen Verwandten mit Bauernhöfen, oft auch zu „Onkel und Tante Becker“, unseren ehemaligen Nachbarn mit Bauernhof und Gasthaus „Zur Erholung“, gegenüber unserem früheren Schulhaus in Gleimenhain.

Allerdings waren die Ferien in Kirtorf keine Erholung im üblichen Sinne. Ich wurde zur Getreide-, Heu- und Kartoffelernte, Dreschmaschine und Viehfütterung, zum Kartoffeldämpfen, Stallmisten, Mistladen und -streuen, Heutreten, Grünfutterholen und -wenden, Jauchefahren, Strohholen und -häckseln „abkommandiert“. Am meisten freute ich mich auf den Viehtrieb zu eingezäunten Weiden, vor allem aber auf das Viehhüten, begleitet vom Schäferhund, auf dorffernen,  nichteingezäunten Wiesen, wohin mir mittags der französische Kriegsgefangene Marcel oder die polnische Zwangsarbeiterin Katrin das Essen brachten. Außer der Ruhe und der frischen Luft hatten diese Tätigkeiten noch andere Vorteile: Ich konnte mich ungestört dem Schnitzen und dem Mundharmonika Spiel widmen, auch führte der Weg öfters an dem außerhalb des Dorfes gelegenen Forstamt vorbei, in dem die etwa gleichaltrige Tochter Hannelore des Forstmeisters lebte.

Zeitweise, besonders in späteren Jahren, wurden die hilfreichen Zangen, jetzt ganz allgemein auf die Verwandtschaft bezogen, hin und wieder doch zu Kneifwerkzeugen, wenn es um Erbangelegenheiten, wechselseitige Briefkontakte, Familientreffen oder -streitigkeiten, Einladungen  oder Krankenbesuche ging,  Verhaltensformen, die, wie mir scheint,  offenbar weit verbreitet sind. Eine verletzende und bis heute schmerzhafte Erfahrung war zum Beispiel, dass sich Verwandte, allein, zu zweit oder mit Familie, im Rhein-Main-Gebiet aufhielten, in philiströser Erstarrung oder Verknöcherung unfähig zu einem Besuch in Wiesbaden, obwohl dazu durchaus die Gelegenheit bestanden hätte. Selbst meine Mutter meinte gelegentlich. „Ach ja, wir wollten euch nicht stören, es hat doch jeder so seinen eigenen Tagesablauf“. Über das Thema hinaus gehend galt das (und gilt noch)  ebenso für „gute Freunde“ und „gute Bekannte“, „gut bekannte“ und „gut befreundete Ehepaare“, die, statistisch gesehen,  täglich nicht mehr als 6 - 8 Sätze wechselnd ( Mitteilung von Prof. Dr. W. HANTEL-QUITMANN in der TV-Sendung „Nachtcafé“ des SWR, 1.6.2007), keine Zeit zu Besuchen haben, es wären hier auch andere nicht genutzte Kontaktwege zu nennen wie z.B. Telefon, Briefe, Karten und Internet. Jeder ahnt, worauf hier hinaus gearbeitet wird: Die Großfamilie ist ein Hort freundlicher und hilfsbereiter Verwandter,  kann aber auch zeitweise eine Ansammlung von Beiß- oder Kneifzangen sein, vermutlich ein Gemeinplatz, der allenthalben langweilen oder  belächelt werden kann, mir  aber wichtig  genug erscheint, das Thema wie ein Gesprenge eines Flügelaltars über dem zentralen Bild „Tod und  Feuer“ anzubringen.

Bei den hier als „Großfamilie“ Dargestellten handelt es sich -- bei der Betrachtung jeweils von links nach rechts gehend -- in der oberen Reihe um meine Kinder Barbara, Manfred und Johannes. In der mittleren folgen nach den Eltern meiner Mutter (Johanna und Christoph)  mein Vater und meine Mutter, ganz rechts mein Bruder Gerhard. In der unteren Reihe sind mein Bruder Günther (etwas verdeckt unter meiner Mutter) und die Eltern meines Vaters (Johannes und Mathilde) angebracht.