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Erläuterungen zum Bild „Zeige deine Wunde“
42 x 65 cm 6.5.1992
„Zeige
deine Wunde“ ist das Zentrum einer 3er-Serie, wobei „Der Clown“ darüber und
„Vor dem Gesetz“ darunter angebracht sind. Der Titel ist dem Environment von Beuys
entliehen.“Die Münchener Galerie Schellmann & Klüser hatte dieses Werk
Anfang 1976 im Kunstforum der Fußgängerunterführung Maximilianstraße/Altstadtring
gezeigt“ (H. STACHELHAUS: Joseph Beuys.- Sb 19/45, 224 S. (S. 192, 193); (Heyne)
München 1987). 1979/80 wurde es von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in
München erworben (R. ERMEN: Joseph Beuys.- rm 50623, 159 S. (S. 76); (Rowohlt)
Reinbek bei Hamburg 2007).
Die Kiefern-Baumscheibe war ursprünglich eine
Erinnerung an die Waldläufe, die ich mit meiner Freundin Bo 1986-90 im Wald
nordwestlich Wiesbaden-Sonnenberg gemacht hatte: Von der Hubertushütte im
Goldsteintal auf dem Trimm-dich-Pfad nach Norden am Römischen Gutshof vorbei
zur Wegekreuzung in der Waldabteilung Hassel, anschließend nach Südosten zu den
Hügelgräbern der Waldabteilung 221 und bis zum Rambacher Sportplatz (NP 253,5
m), dann auf dem Waldweg in Richtung Quellfassung im Tal und zurück zur Hütte.
Am 27.2.1990 fand ich die Baumscheibe etwa 250 m westlich des o. g. NPs als
Rest einer winterlichen Stammholzentnahme des Forstamts. Ich hatte mich
jahrelang im Zusammenhang mit dem damaligen Waldsterben und in Zusammenarbeit
mit der Hessischen Forsteinrichtungsanstalt (FEA in Gießen) wegen der
Bestimmung von Nass- und Trockenjahren mit Baumscheiben befasst und war froh,
jetzt eine Scheibe des Baumes, der wie ein Denkmal während der Waldläufe am
Randes Waldwegs gestanden hatte, zu besitzen, und auf der die letzten 4 Jahre
in Form der äußeren Zuwachsringe festgehalten
waren: „Denkmale rufen gemeinhin Vergangenheit ins Gedächtnis. Sie
verweisen auf vertraute Ereignisse und Personen der Geschichte. Sie dienen dem
Zweck, überliefertes Gedankengut ebenso unbefragt zu vermitteln wie es die
traditionelle Schultafel des Lehrers tut“ (C. TISDALL über „Tram Stop“ im Katalog
der 37. Biennale Venedig, 10.7.-10.10.1976, S.25 ff.; zit. in G. ADRIANI,
W. KONNERTZ & K. THOMAS: Joseph
Beuys.- tb 108, 391 S. (S.335); (DuMont) Köln 1981). Die unter der Scheibe
angebrachten 5 Hummergabeln entdeckte ich -- zusammen mit den dazugehörenden
Hummerzangen -- im Wintersemester 1991/92 auf dem Gelände der Frankfurter
Universität, inmitten von Ziersträucher-Beeten versteckt, auf einer Betonmauer
neben (östlich) der „Altchemie“. Das 1914 errichtete, baulich wie
wissenschaftshistorisch interessante Gebäude in der Robert-Mayer-Straße hatte
alle alliierten Bombenangriffe des 2.
Weltkriegs überstanden. Nachdem die Lebensmittel-Chemiker ausgezogen waren, und
ich mit Hilfe eines Assistenten der Hydrologie (D. Urdas) deren Labors in
monatelanger Arbeit entrümpelt, entstaubt, gewaschen und gesäubert hatten, waren dort vom 14.10.1987 bis
17.3.1994 die Chemischen Labors
der Hydrologie und der Bodenkunde untergebracht. Später wurde es abgerissen und
an seiner Stelle ein Parkplatz angelegt.“
„Jeder
Mensch ist kreativ und kann ein Künstler sein, wenn er die ständige Konfrontation
mit seinem eigenem Ich riskiert“: Dies ist nach ADRIANI, KONNERTZ & THOMAS
(S. 183, s.o.) in Bezug auf Beuys „das eigentliche Beweisstück seiner Lebens-
und Werk-Maxime.“ Einer solchen Lebensart bin ich bei der Gestaltung meiner
Materialbilder unbewusst nachgegangen, stets durchdrungen von Befürchtungen,
dass die bildhaften Äußerungen in einer Sackgasse der Selbstentblößung enden
könnten, eher zum Amüsement oder zur voyeuristischen Befriedigung des Publikums
geeignet als zum eigentlichen Vorhaben, nämlich, sich in der Wohnung ein
eigenes Museum einzurichten. Hinzu kam der von allen Zweifeln geplagte Drang zu
eigenen Bild-Erläuterungen. Wie sich jeder davon in den Medien überzeugen kann,
meiden ja -- so wie der Teufel das Weihwasser meidet-- viele Schamanen, Gurus,
Mystagogen, Hohepriester und Alchimisten der Kunstszene eigene Werkinterpretationen
oder empfehlen, diesen möglichst aus dem
Weg zu gehen. Sie selbst nebeln sich mit Hilfe eines schlagwortartigen
Kunstargots ein, oder werden, was ihnen verständlicherweise noch lieber ist,
von Abhängigen, Messdienern und Byzantinern mit Weihrauch eingenebelt: Soziale
Plastik (Beuys), Malerei in der Malerei (G. Richter), Dithyrambe (Lüpertz),
Erhabenheit (Newman), ready-made (Duchamp), activité paranoique-critique
(Dali), Motivumkehr (Baselitz), Bilderrätsel (Polke). Das Publikum wird zum
Gaffer, Voyeur oder Ignoranten degradiert oder abgesondert, und man bleibt
somit Erhabener, der auf diese Art und Weise esoterischen oder okkulten
Sektierereien ungestört nachgehen kann.
An früheren
Textstellen wurde schon betont, dass nach meiner Auffassung die
Bild-Erläuterung des Bildermachers ein wesentlicher Bestandteil der
Kunstvermittlung ist, vor allem, wenn es
sich um eine sehr persönliche und deshalb oft stark verschleierte Thematik
handelt. Wie fehlende Vermittlung ausarten kann, zeigte die heftige
Auseinandersetzung über das vom Münchener Lehnbachhaus angekaufte Environment „zeige deine Wunde“ im Januar
1980, wie ich vermute, nicht allein wegen des Kaufpreises, sondern eher infolge
der offenbar unzureichenden Bemühungen, den Betrachtern das Werk verständlich
zu machen. „Verdrängung scheint hier die gängige Antwort“ (A. ZWEITE in: H.
STACHELHAUS 1987, s.o., S.194). „Den Finger auf eine Wunde legen heißt ja im
übertragenen Sinne, ein Problem deutlich machen, auf den Kern einer Sache
kommen“ (H. STACHELHAUS 1987, s.o., S. 195), so wie es beispielsweise die
beiden Regisseure M. Antonioni und I. Bergman vorgeführt hatten: Einsamkeit, zerrüttete
Verhältnisse, gestörte Gefühle, Verzweifeln, Unverständnis, Schmerzen, wie
üblich dargestellt in Filmszenen mit Hilfe von Drehorten, Requisiten,
Schauspielern, Sprachen, Geräuschen und Musik. Andere gehen ähnliche Wege, auch
abbildend,
aber stumm: „Der Maler ist das Tagebuch seiner Zeit. Malerei, oder Bildende
Kunst überhaupt, ist eines der wenigen Zeugnisse, das von vergangenen Zeiten
bleibt“ (M. LÜPERTZ in: Markus Lüpertz im Gespräch mit Heinz Peter Schwerfel.-
Kunst heute Nr. 4, 85 S (S.14); (Kiepenheuer & Witsch) Köln 1989). Wenn dem
so ist, bedarf es der Erläuterung, zum Beispiel
-- gerade greifbar -- zu der in o.g. Heft auf S. 61 eingefügten Schwarz/Weiß-Abbildung
>>Tod und Maler--dith.II<< (Lüpertz 1973), um die Bedeutung des
Schneckenhauses, der Farbenpalette, der karierten Jacke, des Brustpanzers (?)
und der verteilt angebrachten X-Zeichen oder Kreuze (?) zu verstehen. Was nutzt
das hochkarätige Kunstgerede auf den Seiten vor und hinter der Abbildung, wenn
dieses Bild um keinen Deut verständlicher wird.
Der
3. Weg, den ich eingeschlagen habe, ist die Verwendung von „Zeitzeugen“, also
Fundgegenständen, ready-mades, Erinnerungsstücken, Relikten und Reliquien, also
Materialien, die während geschilderter Ereignisse anwesend waren, authentischer
Objekte, die „direkt dabei waren“, die bezeugen können, dass etwas geschehen
ist. Ein gutes Beispiel wäre das seltsam verdrehte kupferne Gewehrgeschoss, das
meinem Großvater Christoph Müller 1916 nach der Verwundung am Chemin des Dames
(Frankreich) aus der Schulter operiert wurde, und das er im Schreibtisch seiner
Gießener Wohnung aufbewahrte. Ich könnte auch (weniger dramatisch) meine
eingangs erwähnte EPPA-Armbanduhr zitieren, die mich von 1948 bis zum Abitur
1951 in der Höheren Schule begleitete. Ich trug sie bis 1960 auf der
Universität, in allen Fabriken, in der Landwirtschaft wie im Weinbau, in allen
Bergwerken, auf allen Erdölbohrtürmen sowie im Gelände während meiner Diplom-
und Doktorarbeit. Ich verwende berufsbedingt gerne Steine („In den Steinen ist
die Zeit gespeichert“:Sven Nielsen, Geologe aus Potsdam, in 3SAT, 31.5.2007,
20,20 Uhr)
Ganz besondere Zeitspeicher bestimmter
ausgewählter Geschehen sind die Baumscheiben-Jahresringe, im vorliegenden Fall des zu erläuternden
Materialbilds „echte“ Zeitzeugen, die sich
täglich und jährlich Molekül für Molekül bildeten und ringförmig um die bereits vorhandenen
Zuwachszonen angebaut wurden, also -- das sei besonders hervorgehoben - sogar in der Zeit während der Trimm-dich-Pfad-Waldläufe
entstanden sind. Ohne Erläuterung des zeitlichen und räumlichen Umfelds bleibt
die Baumscheibe für den Betrachter ein
neutrales Stück Holz von mehr oder weniger stark empfundener ästhetischer
Ausstrahlung, lediglich könnte ein Fachmann auf einem polierten Bereich der
Scheibe mit Lupe oder Binokular anhand dendrochronologischer
Vergleichsdiagramme das Alter der letzten 4 Zuwachsringe bestimmen. Für den
Materialbildmacher zeigt sich das Holzstück allerdings in einer diabolischen Ambivalenz,
vor allem, wenn gute Erinnerungen von
Trennungswunden überdeckt sind, und so die Baumscheibe zur offenen Wunde wird.
Was das Münchener Environment betrifft, meint STACHELHAUS in Bezug auf Beuys: “
Er sah in der Kunst die einzige erfolgversprechende Therapie, um die
individuellen....Wunden auf Dauer zu heilen....Das Beuys-Werk „zeige deine
Wunde“ berührt den Kern menschlicher Existenz, die Frage nach Leben und Tod.
Der Schock, den es auslöst, ist von Beuys gewollt“ (H. STACHELHAUS, S.195, s.
o.). Damit ist, wie ich empfinde, der schmerzvolle Zustand keineswegs
aufgehoben, er wird im Gegenteil noch
verstärkt, weil das gesellschaftliche
Umfeld ein derartiges Malheur, die Auflösung einer „Beziehung“, nicht weiter beachtet, hilfreiche soziale
Zuwendungen, wie sie ehemals in Großfamilien, Gruppen, Horden oder Stämmen
üblich waren, zumeist fehlen. „Das Leben
geht weiter“, sagt der Volksmund (Zur
Erinnerung: „Landschaft mit Ikarussturz“ von P. BRUEGEL d. Ä.), durch die unter
der Baumscheibe angebrachten Hummergabeln deutlich gemacht. Ob Bekannte,
Verwandte, Freunde oder Familie, jeder geht seinem Tagewerk nach, es werden
weiterhin die üblichen Feste gefeiert, alle sind „stark beschäftigt“, viele
müssen schnell nach Hause (Garten, Sportschau, Seifenoper, Krimi, Internet,
DVDs), keiner hat Zeit, es gilt, den nächsten Urlaub vorzubereiten, selten
zeigt jemand Betroffenheit, macht passende Vorschläge oder fragt nach Befinden, Gründen, Ängsten oder Lösungen: Die
Wunde bleibt offen. Sie wird nicht durch einen wie auch immer gearteten Schock
oder durch Hilfe Nahestehender geschlossen, sondern erst nach vielen Jahren durch eigenes Tätigsein, durch
Vergessen, Einsicht und Anpassung des Betroffenen.
Außerdem
waren da noch die vielen Themen, die darauf warteten, in Bilder umgesetzt zu
werden, ganz im Sinne von LÜPERTZ: „Ich habe eine sehr starke Zuneigung zu
Bildern, die ich noch nicht gemacht habe“ (in „Kunst heute“, S. 13, s. o.).Sehr
bedrohliche Gefahren lauerten jedoch nach wie vor bei der Vergangenheitsbewältigung
durch das selbstgewählte und übergeordnete Thema „Spurensicherung“. Wenn man
sich in einem Anfall von Schönfärberei die Vergangenheit als sich drehendes
Riesenrad vorstellt, bei dem die Mitfahrer nach einer bestimmten Zeit die
Kabinen verlassen, so wird dem Beobachter immer wieder eine bestimmte
verlassene Kabine vorgeführt. Der Gordische Knoten wird in dem Augenblick
zerhauen, in dem der Betroffene zum distanzierten
Spurensicherer wird und die Spuren lediglich zur künstlerischen Aufarbeitung
der „Individuellen Mythologie“ benutzt. Dann gilt, was WALT WHITMAN formulierte:
„Ich
habe, was hinter mir liegt, aus guten Gründen weit überholt,
rufe aber, wenn ich es will, alles wieder
zu mir heran“
(Aus:
Gesang von mir selbst.- In H. R. HILTY (Hg.):
documenta poetica. Englisch/Amerikanisch.-
392 S. (S. 108-109); (Kindler) München 1962).
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